Steve Jobs: Die vakante Stelle

Apple vernachlässigt Details

Vor fast genau einem Jahr starb der Apple-Mitgründer Steve Jobs, seitdem ist Tim Cook offizieller CEO. Was hat sich seitdem verändert? Nicht so viel wie mancher befürchtete. Aber der Teufel steckt im Detail. Die Veröffentlichung von iOS 6 beweist, dass Jobs Stelle vakant ist, was auf Kosten der Qualität geht.

Tim Cook ist einer der Gründe für den Aufstieg von Apple als wertvollstes Unternehmen der Welt. Er koordiniert die Einkäufe und sorgte dafür, dass kein anderes Konkurrenzunternehmen derartig hohe Margen erzielen kann. Man darf sagen: Der studierte Industriedesigner Cook ist ein Hardware-Mann. iPhone 5 und das MacBook Pro mit Retina-Display sind faszinierende Produkte. Der von Apple aufwendig optimierte A6-Prozessor im neuen Smartphone ein großer Wurf: Der Dualcore-Prozessor übertrifft sogar knapp die Leistungen von derzeit verbauten Vierkern-Prozessoren.

Auf der Software-Seite zeigen sich hingegen Defizite. Apples eigene Karten-Anwendung ist Googles Karten hoffnungslos unterlegen, neben falschen POIs sorgen vor allem die oft äußerst schlecht aufgelösten Satellitenbilder für Unmut bei den Apple-Anwendern. Auf der Keynote präsentierte das Unternehmen stolz die Fly-Over genannte Funktion, mit der man über eine dreidimensionale Darstellung einiger Großstädte fliegen kann. Aber auch hier leistete man sich bei der Veröffentlichung am 19. September grobe Patzer. Man suche zum Beispiel mal nach der Brooklyn Bridge in New York.

Die Karten-Applikation von Apple, die ersatzlos die auf Google-Maps basierende vorherige Karten-App ersetzt, ist weit von einer 1.0 Version entfernt. Da helfen auch neue Features, die Google bisher lediglich in der Karten-App für Android anbietet, wie Vektor-basierte Karten und Turn-by-turn-Navigation nicht weiter. Apples Karten sind derzeit höchstens eine Alpha-Version, kein fertiges Produkt.

Nun wurde bekannt, dass der Vertrag zwischen Apple und Google noch ein Jahr weiterläuft, Cupertino hätte also noch warten können und sollen, um an den Karten zu arbeiten, besseres Material einzukaufen oder selbst zu erstellen. Wir sprechen ja nicht über einen Verein, der nur begrenzt Mittel zur Verfügung hätte. Warum, zum Kuckuck, hat Apple mit seiner legendären Detailversessenheit so offensichtlich gepatzt?

Die Antwort dürfte sein, dass Cook zwar ein guter CEO ist, aber eine Stelle bei Apple derzeit schlicht nicht besetzt ist: die von Steve Jobs. Dabei meine ich nicht den Visionär Jobs, sondern jemanden, der unermüdlich und mit einer guten Portion Wahnsinn detailverliebt und -besessen die Produkte prüft, bevor sie auf die Kunden losgelassen werden. Auch Jobs war nicht unfehlbar, was zum Beispiel das Desaster mit MobileMe zeigte – aber der kostenpflichtige iCloud-Vorgänger war auch nur eine Option, kein Grundpfeiler wie die Karten, auf die ja alle Apps auf dem iPhone zugreifen.

Angeblich hat Cook Googles Forderungen nicht akzeptiert: Der Internet-Riese wollte mehr Einfluss auf die Gestaltung der App haben sowie das eigene Logo auf den Karten einblenden. Beides wollte Apple nicht. Was zu einem Detail führt, über das bisher nicht berichtet wurde, mich aber wahnsinnig stört.

Das iPad hat in iOS 6 eine Uhren-App erhalten. Das Positive: Apple beweist Stil und bediente sich beim Designklassiker der Schweizer Bahnhofsuhr. Das Negative: In der App springt einem ein Yahoo!-Logo in’s Auge. Warum? Es ist nur ein Detail, aber warum hat das wertvollste Unternehmen der Welt es nötig, eine eigene App, die nun wirklich „nur“ einen hohen Anspruch erfüllen muss, nämlich den nach gutem Design, mit einem Fremdlogo zu verschandeln?

„Unter Jobs wäre das nicht passiert“, liest man öfter in den Kommentaren zum Karten-Unfall und ich glaube, das stimmt. Ich glaube auch, dass Apple dringend jemanden braucht, der die Rolle Jobs in der Qualitätssicherung übernimmt. Es gibt den Spruch, dass die ersten 90 Prozent der Arbeit 10 Prozent der Zeit in Anspruch nehmen. Für die restlichen 10 Prozent, um ein Produkt wirklich gut zu machen, benötige man 90 Prozent der Zeit. Auf die restlichen 10 Prozent scheint Apple derzeit gerne verzichten zu wollen.

Nachbemerkung: Nachdem der Artikel fertig geschrieben war, entschuldigte sich Apple-Chef Tim Cook in einem offenen Brief bei den iOS-6-Anwendern für die Karten-App und empfiehlt für eine Übergangszeit, bis man die Karten verbessert habe, Webkarten oder Apps von Google, Bing, MapQuest, Waze oder Nokia.

Marcel Magis schrieb für die Magazine MacNewsPaper und MacLife, bevor er als Redakteur für das Portal macnews.de arbeitete. Zuletzt war unter Anderem er an der Entwicklung der Zeitschrift Mac & i beteiligt.