FontShops FontBook-App für iPhone und iPad: Von der Schriftrevolution zur Schriftfamilienplanung
Manche Apps stellen sehr begrenzte Funktionalitäten zur Verfügung, andere eröffnen Welten. Die Arbeit eines Designers wird davon inspiriert, dass man vieles im Blick hat: heute vor allem Bilder, Entwicklungen in Medien, Design, Architektur und Gesellschaft sowie insbesondere die neusten Schriftentwürfe. Inzwischen gibt es allerdings eine unüberschaubare Anzahl an Schriften. Der Schrift-Vertriebs-Platzhirsch FontShop in Berlin führt über 150.000 – Tendenz steigend. Um dieser Vielfalt Herr zu werden, gab es lange Zeit das gedruckte FontBook. Seit vier Jahren ist die FontBook-App auf dem Markt. Was bietet sie?
Das FontBook von FontShop als Schriftlexikon
FontShop hatte dazu von 1989-2006 ein gedrucktes umfassendes Schriftkompendium für Satzschriften herausgebracht, das FontBookals Buch, als Ringbuch mit Ergänzungslieferungen und schließlich 2011, 5 Jahre nach dem letzten gedruckten Werk, eine App für Apples iPhone und iPad unter iOS. Gerade auf dem iPad mini oder dem iPad mit seinem größeren Bildschirm entfaltet die App ihren Reiz, denn sie versetzt den Designer in die Lage, Schriften nach sehr unterschiedlichen Kriterien suchen zu können.
Unendliche Geschichte: Die Schriften der Welt im Überblick
Über Updates wird die App auf dem Laufenden gehalten. 2012 waren 134 Hersteller, über 1.600 Schriftdesigner mit über 8.000 Schriftfamilien mit fast 37.000 Fonts vertreten. Dabei konnte man 736.000 unterschiedliche Schriftmuster nutzen. Die Spezialität der iPad-Version ist der Schriftenvergleich, die Version auf dem iPhone, die nachgereicht wurde, kann aufgrund des kleineren Bildschirms weniger.
Welche Suchkriterien gibt es?
Der Startbildschirm differenziert zwischen „Schriftname“, „Schriftklasse“, „Jahr“, „Designer“, „Hersteller“ und „Verwendung/Einsatzzweck“. Weitere Schaltflächen zeigen die eigenen gespeicherten Favoriten oder ermöglichen einen Schriftvergleich. Außerdem kann man in „News+Trends“ stöbern. In den Listen „Zweck“, „Genre“, „Zeitalter“, „Ähnlichkeit“, „Beliebtheit“ oder über die Volltextsuche hat man Werkzeuge für Suche und Recherche an der Hand.
Großer Cache für viele Schriften und soziales Typo-Teilen
Unter „Einstellungen“ kann man für mehr Schnelligkeit den iPad-Cache auf 100 MB hochladen, weil die App bis zu 500 MB Content bereitstellt, was 10.000 Fontmustern entspricht. Eine Besonderheit ist, dass man Lieblingsschriften und ihre Typomuster über die sozialen Netzwerke Facebook und Twitter teilen kann. Ebenso per Email, und es gibt einen integrierten Bildschirmschnappschuß-Button.
Innovatives Design und Technologien in den 1980er-Jahren
Schon immer war klar, dass ein digitales Lexikon oder Wörterbuch bestimmte Vorteile bei der Suche bieten kann. Die FontBook-App nutzt diesen Vorteil auch visuell eindrucksvoll. FontShop als Schriftvertrieb und MetaDesign als Designagentur waren beide Kinder des Gestalters und Typografen Erik Spiekermann. Beide schwammen ab den 1980er Jahren, die beseelt war von der digitalen Revolution und Computerisierung mit völlig neuen gestalterischen Freiheiten, auf einer Welle der Innovation. Das betraf Design und Technologien gleichermaßen.
FontShop, FontBook und die digitale Revolution
Das gedruckte FontBook als Sammlung aller für den Computer vorliegenden Fonts war so etwas wie die Grundausstattung jedes Typografens. Dabei ist der historische Hintergrund wichtig. Anerkannte Schrifthersteller wie Bertold hatten ihr eigenes feines Schriftprogramm mit langen historischen Wurzeln, das aber – was die Anzahl der Fonts betraf – nach heutigen Maßstäben mehr als begrenzt war. Mit Erscheinen des FontBook war augenfällig dokumentiert worden, wie dimensionssprengend der Schriftsatz mit frei skalierbaren Postscript-Schriften auf dem Apple Macintosh und später dem Windows-PC war. Das FontBook war so gesehen auch Ausdruck einer Umwälzung, die zum Motto hatte: „Alles ist möglich, alles ist verfügbar.“ Werkzeuge dieser Veränderung waren damals Quark-X-Press als zuverlässige Satz- und Layoutsoftware und der Apple Macintosh, der als Erster professionelle Grafikfähigkeiten und ein kombiniertes Software- und Hardware-Ökosystem dafür bot.
Neue Schriften und neue technische Möglichkeiten
Die digitale Revolution hat vieles im Grafik-Design und Kommunikations-Design verändert. Das war ab jenen 1980er-Jahren zu merken. Die Entwürfe änderten sich langsam, weil die technischen Möglichkeiten sich zusehends erweiterten. Software um Softwarepaket kam auf den Markt, Seitenlayout am Bildschirm, Bildbearbeitung oder Illustration per Grafiktablett waren neue Tätigkeitsfelder.
WYSIWYG-Bildschirmdarstellung und manipulierbare Schriften
Doch am augenscheinlichsten konnte man die Entwicklung an der Typografie ablesen. Schriften waren digitalisiert worden und per WYSIWYG (What You See Is What You Get) am Bildschirm in ihrer Unterschiedlichkeit per Apples Bildschirmbeschreibungssprache Quickdraw erkennbar. Schriften waren zum ersten Mal sehr einfach ind schnell in ihrer Grundform grafisch manipulierbar.
Das Ende der Schriftkultur?
Traditionell geschulte Typografen gingen auf die Barrikaden, sahen einen kulturellen Verfall, gar das Ende der Schrift-Kultur, die bis dahin exklusiv, hochpreisig und als Diskussionsgegenstand Expertenrunden vorbehalten war. Schriften wurden von jungen Designern plötzlich verzerrt, gestaucht, Buchstaben in bearbeitbare Zeichenwege umgewandelt und dekonstruktivistisch zerlegt. Dabei bedingten sich verschiedene kulturelle Bereiche und befruchteten sich gegenseitig.
Neville Brody, David Carson und das innovative Editorial-Design
Die typografischen Entwürfe, die der englische Typedirector und Designer Neville Brody für die Avantgarde-Musikgruppe „Cabaret Voltaire“ gestaltete und seine späteren Editorial-Design-Entwürfe für die Lifestyle-Zeitschrift „The Face“, die ihn berühmt machen sollten, beeinflussten sich wechselseitig. Das Musikmagazin „Raveline“ trieb die typografische Dekonstruktion von Worten und Buchstaben im Zuge von Loveparade und Ravebewegung auf die Spitze bis zur Unkonsumierbarkeit. Dies im Gefolge des Amerikaners David Carson, der Typografie für Musikzeitschriften wie „Raygun“ zur Kunstform machte, die auch viele Markenartikler rund um den Globus nutzten. Nach Deutschland wurde Carson zum Beispiel zu Workshops von der Agentur Rempen und Partner eingeladen. Dem Logo für das Düsseldorfer Schauspielhaus sollte man den Besuch ansehen.
Die Multiple-Master-Schrift „Myriad“ mit Designachsen
Typografie war plötzlich nicht mehr träge, spröde und traditionsdurchflutet, sondern in, hip und Kulturbereiche verbindend. Wie aus dem Nichts entstanden immer neue aufregende Schriftfamilien. Sowohl traditionell anmutende, die aber bereits von den Möglichkeiten des digitalen Entwurfs profitierten, als auch experimentelle, die nie gesehene Formensprachen schufen. Darunter z.B. die Multiple-Master-Schrift „Myriad“, die mit Designachsen arbeitete, die sich fein justiert bezüglich ihrer Fettegrade und Kursivstellung verändern ließen.
Schriftsippe Stone: Die erste voll-digital designte Superschriftfamilie
Die Stone war die erste umfangreiche Schriftsippe, die komplett am Bildschirm entstanden war. Vor allem ihre Informal-Variante trug mit ihren Rundungen modernen Kommunikationsanforderungen Rechnung, wie dem Fax oder den noch nicht so hoch aufgelösten Bildschirmen – Kommunikationstechnologien, die Details verschluckten und deshalb vereinfachte Schriften mit Rundungen und größerer Laufweiten gut gebrauchen konnten. Neville Brodys „Blur“ war eine Schrift mit unterschiedlich stark verblassenden Schriftschnitten, die wie unscharf und rundkopiert wirkten. Die „Beowolf“, ein sogenannter Random Font, änderte automatisch und permanent nach dem Zufallsprinzip ihre Außenkontur.
Typografie an der Nahtstelle zwischen Design und Kunst
Um den Gedanken von Typografie und Schriftkunst entstand eine Szene, die sich als innovativ und fast schon an der Nahtstelle zwischen Design und Kunst verstand. Protagonisten dieser Bewegung sollten in den 1980er-Jahren der Engländer Neville Brody, später, in den 1990er Jahren der Amerikaner David Carson und sehr früh und dann die ganze Zeit über der bereits erwähnte Erik Spiekermann sein.
Verzerrte Schriften und exquisites Design: „The Face“
Neville Brody war einerseits ein klassisch geschulter Typograf, der gelernt hatte, Schriften von Hand zu zeichnen. Als er die viel beachtete Monatszeitschrift „The Face“ gestaltete, war deren Editorial Design zunächst rau und atmete Streetcredibility. Im Laufe der Zeit wurden die Inhalte mainstreamiger und die Gestaltung sophisticated. Brody begann, für die Headlines von „The Face“ eigene Fonts zu zeichnen. Auch verzerrte er Schriften elektronisch und machte das unter traditionellen Typografen verpönte Mittel salonfähig.
Die FontBook-App mit komfortablen Typo-Informationen
Die FontBook-App atmet diesen Geist, doch die wilden typografischen Zeiten waren in den 1990er-Jahren vorbei. Die nachfolgenden Generationen haben wieder gelernt, Typografie klassisch aufzufassen. Hipp sind heute nicht mehr die ganz wilden Schriften, sondern die Großfamilien, die Schriftsippen und Superschriftfamilien, die möglichst komplett und umfassend alle Schriftfamilien miteinander verbinden sollen. Die FontBook-App ist bezüglich ihrer umfassenden Darstellung der Schriften und vor allem auch vom Design und der Benutzerführung her vorbildlich. Man könnte sagen: Nie war der Überblick über die Welt der Schriften komfortabler und vollständiger.
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